ZEIT Campus: Herr Professor Chomsky, Sie sind nicht nur einer der meistzitierten Wissenschaftler der Welt, Sie sind seit 45 Jahren politischer Aktivist. Wenn man sich die Politik heute anschaut, muss man sich fragen: Können »public intellectuals« wie Sie überhaupt etwas erreichen?
Noam Chomsky: Wie kommen Sie auf diese Frage?
ZEIT Campus: Es ist Krieg in Afghanistan, die Welt leidet an den Folgen der Wirtschaftskrise, die soziale Schere geht immer weiter auseinander…
Chomsky: Das Problem ist einfach: Die allermeisten Intellektuellen sind Diener der Macht. Sie beraten Regierungen, sie nennen sich Experten, sie streben nach Prestige, übrigens nicht nur heute, sondern seit Jahrhunderten. Doch jede Gesellschaft hat an ihren Rändern kritische Intellektuelle. Beide Typen haben Einfluss: die Diener der Macht und die Dissidenten.
ZEIT Campus: Wir bleiben skeptisch: Was haben Sie denn verändert in den vergangenen 45 Jahren?
Chomsky: Nicht ich persönlich habe etwas verändert. Ich war Teil einer Bewegung, und diese Bewegung hat vieles erreicht. Die Welt heute unterscheidet sich fundamental von der Welt von vor 45 Jahren: Der Einsatz für Bürgerrechte, Menschenrechte, Frauenrechte und Umweltschutz, der Widerstand gegen Unterdrückung und Gewalt haben die Welt substanziell geprägt. Ich kann nicht verstehen, wie Sie behaupten können, es habe sich nichts verändert!
ZEIT Campus: Glauben Sie, dass die Welt heute besser ist als vor 40 oder 50 Jahren?
Chomsky: Selbstverständlich! Gehen Sie nur die Flure hier im Massachusetts Institute of Technology entlang. Die Hälfte der Studenten sind Frauen, ein Drittel gehört einer ethnischen Minderheit an, die Leute sind locker gekleidet, sie engagieren sich für alle möglichen Dinge. Als ich vor 50 Jahren hierherkam, war das ganz anders: Da sahen Sie Männer, weiß, förmlich gekleidet und nur an der eigenen Arbeit interessiert. Dieselbe Entwicklung können Sie auch in Deutschland und sonst wo auf der Welt sehen.
ZEIT Campus: Aber sind auch die Studenten politischer geworden? Der jetzigen Generation wird oft vorgeworfen, sie sei desinteressiert an der Welt.
Chomsky: Ich glaube, der Vorwurf ist falsch. Die Zeitspanne der hohen Politisierung an den Universitäten war nur sehr kurz — von 1968 bis 1970. Davor waren die Studenten unpolitisch. Denken Sie an den Vietnamkrieg, eines der größten Verbrechen seit dem Zweiten Weltkrieg; es hat vier oder fünf Jahre gedauert, bis sich in den USA irgendeine Form sichtbaren Protests regte. In den siebziger Jahren ebbte der dann schnell wieder ab. Vor dem Irakkrieg war das ganz anders: Meines Wissens war er der erste Krieg in der Geschichte, gegen den demonstriert wurde, bevor er begonnen hatte. Meine Studenten bestanden darauf, Vorlesungen ausfallen zu lassen, um zu demonstrieren. Vor 50 Jahren wäre das nie passiert. Die Proteste haben den Krieg zwar nicht verhindert, aber sie haben ihn beschränkt — die USA waren nie in der Lage, im Irak auch nur einen Bruchteil dessen zu tun, was sie in Vietnam getan hatten.
ZEIT Campus: Sind solche Proteste nur Strohfeuer?
Chomsky: Nein. Die Politisierung ist heute viel höher als in den fünfziger Jahren. Es haben sich Formen von dauerhaftem Aktivismus entwickelt, ohne die viele unserer Schlachten nicht gewonnen worden wären: Zum Beispiel gab es einen kontinuierlichen Fortschritt bei den Frauenrechten. Hätte ich meine Großmutter gefragt, ob sie unterdrückt sei — sie hätte keine Ahnung gehabt, wovon ich spreche. Meine Mutter hätte gesagt: »Ich bin unterdrückt, aber ich weiß nicht, was ich dagegen tun soll!« Meine Tochter würde mich nach einer solchen Frage rauswerfen. Unsere Welt ist menschlicher geworden!
ZEIT Campus: Glauben Sie an historischen Fortschritt?
Chomsky: Fortschritt ist langsam, aber über lange Zeithorizonte hinweg dramatisch, denken Sie etwa an die Abschaffung der Sklaverei oder die Entwicklung der Meinungsfreiheit. Rechte werden nicht einfach so verliehen. Menschen, die sich zu Bewegungen zusammengeschlossen haben, haben sie durchgesetzt. Doch Fortschritt ist keine lineare Entwicklung, es gibt auch Zeiten des Rückschritts.
ZEIT Campus: Wenn es Zeiten des Fortschritts und Zeiten des Rückschritts gibt — wird die Welt in 50 Jahren eine bessere sein als heute?
Chomsky: Was in 50 Jahren sein wird, hängt stark davon ab, was die junge Generation heute tut. Zwei große Gefahren bedrohen die Existenz unserer Welt: unser Umgang mit der Umwelt und die Gefahr, die von Atomwaffen ausgeht. Wenn wir uns heute nicht stärker für den Umweltschutz einsetzen, können wir in 50 Jahren mitten in einer schweren Umweltkrise stecken, von den Risiken der Atomwaffen ganz zu schweigen. Die schreckliche Katastrophe von Fukushima erinnert uns daran, dass auch die zivile Nutzung von Kernkraft extreme Risiken birgt. Das dürfen wir unter keinen Umständen ignorieren!
ZEIT Campus: In 60 Jahren sind die Studenten von heute so alt wie Sie. Was müssen sie tun, um zufrieden auf ihr Leben blicken zu können?
Chomsky: Natürlich können sie sagen, dass sie gern gelebt haben, weil sie Freunde und Kinder haben und Spaß gehabt haben. Aber um ein wirklich erfülltes und befriedigendes Leben geführt zu haben, sollten sie Probleme erkannt und dazu beigetragen haben, diese zu beseitigen. Wenn sie mit 80 Jahren nicht zurückblicken und sagen können: »Ich habe etwas erreicht!«, dann ist ihnen ihr Leben nicht gelungen.
ZEIT Campus: Sind Sie heute, mit 82 Jahren, zufrieden mit dem, was Sie erreicht haben?
Chomsky: Zufrieden zu sein ist gar nicht möglich. Mein Leben hat zu viele Dimensionen, Familie, Beruf, Politik und einiges andere. In manchen Bereichen bin ich zufrieden, in anderen nicht. Die Probleme dieser Welt sind noch immer ziemlich groß: Die Ungleichheit in den USA ist auf dem Niveau der 1920er Jahre, und die Wirtschaft hat noch immer einen immensen Einfluss in unserer Gesellschaft. Da kann ich doch nicht zufrieden sein!
ZEIT Campus: Politisches Engagement wie Ihres ist unter Wissenschaftlern selten. Sind Sie manchmal wütend auf die »Diener der Macht«, wie Sie sagen, oder auf Professorenkollegen, die sich nur auf ihre wissenschaftliche Arbeit konzentrieren?
Chomsky: Ich finde es unmoralisch, Unterstützer eines Machtsystems zu sein, aber das heißt nicht etwa, dass ich wütend auf jemanden bin. Es ist ja richtig: Wissenschaftler haben nicht per se tiefere politische Einsichten als andere Menschen und sind ihnen auch nicht etwa moralisch überlegen. Aber sie stehen in der Pflicht, den Politikern dabei zu helfen, die Wahrheit zu suchen und zu finden.
ZEIT Campus: Das hört sich an, als ob Sie altersmilde geworden seien.
Chomsky: Nein. Meine Ansichten und Haltungen haben sich im Laufe der Jahrzehnte nicht verändert. Ich glaube immer noch an das, woran ich auch schon als Teenager geglaubt habe.
ZEIT Campus: Ist das denn gut — immer noch an dasselbe zu glauben wie vor fast 70 Jahren?
Chomsky: Wenn es um grundlegende Prinzipien geht, ja. Natürlich habe ich meine Meinungen in vielen Fragen geändert — aber meine Ideale sind dieselben!
ZEIT Campus: Sie sagen häufig, Sie seien Anarchist. Was meinen Sie damit?
Chomsky: Anarchisten versuchen, Machtstrukturen zu erkennen. Sie verlangen, dass sich diejenigen, die Macht ausüben, rechtfertigen. Meistens gelingt diese Rechtfertigung nicht. Dann arbeiten Anarchisten daran, die Strukturen zu enttarnen und sie zu überwinden — ganz egal, ob es sich um patriarchalische Familien, um ein mafiöses internationales System oder um die privaten Tyranneien der Wirtschaft, also die der Unternehmen, handelt.
ZEIT Campus: Was war das Schlüsselerlebnis, das Sie zum Anarchisten machte?
Chomsky: Es gab keins. Als ich zwölf Jahre alt war, habe ich angefangen, in New Yorker Antiquariate zu gehen. Viele von ihnen wurden von Anarchisten betrieben, die aus Spanien stammten. Deshalb erschien es mir damals ganz natürlich, Anarchist zu sein.
ZEIT Campus: Sollen alle Studenten Anarchisten werden?
Chomsky: Ja. Studenten sollen Autoritäten herausfordern und sich damit in eine lange anarchistische Tradition einreihen.
ZEIT Campus: »Autoritäten herausfordern« — auch ein Liberaler oder ein moderater Linker würde diese Aufforderung unterschreiben können.
Chomsky: Sobald jemand illegitime Macht erkennt, herausfordert und überwindet, ist er Anarchist. Die meisten Menschen sind Anarchisten. Mir ist egal, wie sie sich nennen.
ZEIT Campus: Wen oder was muss die heutige Studentengeneration herausfordern?
Chomsky: Diese Welt ist voller Leiden, Not, Gewalt und Katastrophen. Studenten müssen sich entscheiden: Geht sie das etwas an oder nicht? Ich sage: Schauen Sie sich um, analysieren Sie die Probleme, fragen Sie sich, was Sie tun können, und machen Sie sich an die Arbeit!